Der Tag, als ich den Jedermann gesehen hab‘ ist brütend heiß. 30 Grad plus. Das könnte am Abend ein Gewitter geben, denke ich, aber der Wetterbericht meldet nichts dergleichen. Ein Wetterumsturz ist erst für Sonntag angesagt.
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Das ist insofern relevant, weil ich Karten für den „Jedermann“ habe. Schönwetterkarten. Nur gültig wenn der Schnösel am Domplatz sterben darf und nicht im Festspielhaus. Riskante Sache also. Aber ich bin felsenfest überzeugt, dass es nicht regnen wird. Natürlich nicht. Die Premiere zum 100. Jubiläum der Salzburger Festspiele wird doch nicht ins Wasser fallen.
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Mit den Festspielen verbindet mich eine Art Hass-Liebe. Deren Ursprung ist schon eine Weile her, als ich noch studierte und parallel eine Karriere als Kellnerin anstrebte. Die breite Palette der Einsatzorte reichte von Badebuffet, Schutzhütte, Münchner Oktoberfest bis zum noblen 5-Stern-Hotel. Das war der „Österreichische Hof“, der inzwischen auf „Hotel Sacher Salzburg“ hört.
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Meinen Job dort darf man sich ungefähr so vorstellen: Du fadisierst dich stundenlang, polierst das Besteck, zupfst immer wieder die Servietten zurecht, bis die jeweilige Festspiel-Aufführung zu Ende ist. Dann wimmelt es im Lokal plötzlich wie in einem Bienenhaus. Von Null auf Hundert rennst du praktisch um dein Leben. Lernst viele hässliche Seiten von Reich/Schön/Berühmt und Begabt kennen. Noch mehr hässliche Seiten vom Gastgewerbe. 20 Schilling Trinkgeld gab’s vom Oberkellner, der natürlich als Einziger kassieren durfte. Für den ganzen Abend wohlgemerkt!
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Und doch – so eine künstlerische Atmosphäre ist berauschend. Was hätte man damals schon drum gegeben, um einmal bei einer Aufführung dabei sein zu können. Bei DER Aufführung schlechthin, dem Sterben des reichen Mannes.
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1. August 2020: Es ist soweit. Endlich. Jedermann, heute bist du mein. Extra für dich hab‘ ich mich in Schale geworfen, obwohl ich’s eigentlich lieber gemütlicher mag. Aber für ein Rendezvous mit so seiner Persönlichkeit will man sich schon herausputzen. Da ich vom Pinzgau anreise, mehrere Baustellen und Staus einrechnen muss, plane ich sehr viel Extra-Zeit für dich ein. Damit ich zu unserem Date ja nicht zu spät komme. Der Beginn bis zur Vorstellung um 21 Uhr zieht sich dann quälend hin. Der Einlass beginnt zudem erst dreissig Minuten später als geplant. Das ist eine Ewigkeit, wenn man in der schmalen Franziskanergasse wartet.
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Es ist immer noch drückend heiß, sehr schwül. Mindestabstand praktisch unmöglich. Manche Besucher haben Fächer und Ventilatoren dabei. Andere bringen Sitzpolster für die Holzbänke mit. Beneidenswerte Profis. Manche tragen Masken, sogar passend zur Robe. Viele nicht. Manche versuchen zumindest Abstand zu halten, viele denken gar nicht dran.
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Allgemeine Erleichterung, als endlich Bewegung in die Menge kommt und wir uns hineinschieben. Dicht gedrängt. Merke, auch Menschen in seidenen Roben, die auf den Einlass zu einer exklusiven Vorstellung warten, verhalten sich nicht anders als die Masse, die den Schlussverkauf im Baumarkt stürmt. Das wird die Frau Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler vielleicht nicht gern hören, aber das Covid-Management hat noch Luft nach oben. Am Eingang kontrollieren viele junge Menschen mit Plastikschutz unsere personalisierten Karten. Ferialjob nehme ich an. Ich beneide sie. Die bekommen noch bezahlt dafür, dass sie hier dabei sein dürfen. Scheint mir eindeutig besser als Gastgewerbe.
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Magischer Moment, als ich endlich drin bin. Vor mir der mächtige Dom, hell erleuchtet, dagegen hebt sich der Himmel umso dunkler ab. Um ehrlich zu sein, fast zu dunkel. Man kann es nicht leugnen, das sind schwarze Gewitterwolken, die hier auf ihren unwillkommenen Einsatz warten. Noch bin ich zuversichtlich. Die Tribüne füllt sich mit Publikum, die Aufführung wird bald beginnen, alles ist gut. Ich begebe mich auf meinen Platz und ignoriere das bisschen Wind. In der Krone heißt es heute zwar „Sturmböen fegten über den Residenzplatz“. Geh bitte, das Lüfterl, nicht der Rede wert.
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Während ich mit meiner Vorfreude beschäftigt bin, ertönt allerdings eine Ansage. Das Publikum möge bitte ins Festspielhaus wechseln. Was? Wie bitte? Der Jedermann wird heute nicht vor meinen Augen sterben? So ein Pech darf einfach nicht wahr sein. Merke, wenn du eine schlechte Verliererin bist solltest du nicht auf Schönwetterkarten setzen. Fassungslos begebe ich mich wieder zum Ausgang.
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Ein junger Mann, der vermutlich ebenfalls sein Studium mit diesem Sommerjob verdient, erklärt gerade einem deutschen Ehepaar, dass es keinen Ersatz für Schönwetterkarten gibt und sie ihr Geld nicht zurückbekommen. „Pech gehabt“, meint er lapidar. Stimmt allerdings nicht, zum Glück. Aber am ersten Abend kann man noch nicht alles wissen. Wir bekommen natürlich unser Geld zurück, hadern zwar mit der Enttäuschung, haben aber keinen finanziellen Verlust.
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Ich treibe in der Menge Richtung Festspielhaus, das mir verwehrt bleiben wird. Die Mitarbeiter der Festspiele hetzen im Laufschritt an uns vorbei. Schleppen Requisiten, ziehen Rollwägen mit Unterlagen und sind trotz des Chaos sichtlich bemüht Würde zu bewahren. Inzwischen beneide ich sie nicht mehr um ihren Job.
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Beim Festspielhaus angekommen beginnt es leicht zu tröpfeln. Immerhin. Ich schaue noch einmal zurück, um einen Blick auf die Festung zu werfen. Und sehe IHN. Tobias Moretti entsteigt gerade einem Bus, der die Künstler vom Domplatz hierher gefahren hat. Happy End quasi, jetzt kann ich selig wieder nach Hause fahren. Ich hab‘ immerhin den Jedermann gesehen.
„Die Salzburger Festspiele gehen mit einem opulenten, kurzweiligen, effektvollen und energiegeladenen Jedermann in ihren Jubiläumssommer“, erfahre ich heute von den Salzburger Nachrichten.
Herrlich, das Wort opulent! Es erzeugt Bilder im Kopf. Bilder einer Vorstellung, die man verpasst hat. Wegen dem bisserl Regen. Vielleicht eine naive Frage einer Provinzlerin, aber warum wird der Domplatz für die Aufführungen eigentlich nicht überdacht?
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